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EIN ABENTEUER

Eigentlich hätte ich den Stelvio-Marathon 2017 drei, oder vier, oder fünf Mal aufgeben wollen. Irgendwie habe ich es zeitgerecht ins Ziel geschafft und bin somit Teil eines Premierenevents geworden. Klar ist leider auch: Würdest mehr trainieren, würdest weniger leiden…

Trainingseifer ist so ein Wort. Ja, ich laufe gerne und regelmäßig, und nein, ich strenge mich nicht so gerne an. Ja, die Vorbereitung ist wichtig, und nein, ich nehme es leider nicht so genau mit Ernährung und Trainingsreizen. „Für dich ist das alles ein Abenteuer“, hatte mir Trailrun-Trainer Werner einige Tage vor dem Stelvio-Marathon gesagt, weder bewundernd noch verurteilend gesprochen, nur nüchtern auf den Punkt gebracht - und er hatte damit recht gut beschrieben, was ich für ein Typ Mensch bin. Einer, der sich überwinden kann, der sich auch die Seele aus dem Leib kotzen würde – nur um zu erforschen, wo die Grenzen liegen.

42,195 Meter, 2350 Höhenmeter innerhalb von acht Stunden. So lautete meine Herausforderung beim ersten Stelvio Marathon am 17. Juni. Der Ötscher Ultra war seit zwei Wochen Geschichte, und normalerweise wäre ich in Südtirol nicht angetreten, wäre ich nicht auch Südtiroler, mit den Wurzeln just in der Gegend des Stilfser Nationalparks. Und wenn ich nicht bei einem Gewinnspiel des Magazins „Running&Fitness“ gewonnen hätte. Nachträglich, vielen Dank dafür!

Die ersten 16, 17 Kilometer spielten sich im Flachen zwischen Prad und Glurns ab und stellten keine weiteren Probleme dar. Doch spätestens zur Halbzeit der Strecke war ich den „Running“-Leuten sicher nicht mehr dankbar, ganz im Gegenteil. Hätte nicht ein anderer diesen Startplatz einnehmen können, dachte ich, als ich von 900 m auf 1300 m hochkeuchte. Einige Anstiege waren dermaßen steil, dass mir schwarze Punkte vor den Augen herumtanzten und ich einen Kreislaufkollaps befürchtete. Wenn’s noch dunkler wird, setz‘ dich lieber nieder. Denn wenn zusammenbrichst, schmerzt es mehr, nahm ich mir vor. Der Weg flachte kurzzeitig wieder ab, Atem und Herzschlag stabilisierten sich und schweißüberströmt erreichte ich Stilfs. „Du wirst dir denken: Ganz schön viele Deppen heute unterwegs“, sagte ich im Vorbeilaufen einem jungen Feuerwehrmann, der die Teilnehmer den richtigen Weg wies. „Ja“, rief er mir nach, „und zahlen tut’s auch alle dafür.“

Ich lachte in mich hinein, glücklich, hier zu sein. Rund einen Kilometer später war die Freude verflogen und hatte Ärger, Wut, Verzweiflung Platz gemacht. Denn nunmehr stieg die Strecke nur mehr an, von 1300 auf über 2400 m. Das ist der erste und letzte Bergmarathon, den ich bestreite, schwor ich mir. Warum tust du dir das an?! An der Furkelhütte steige ich aus und fahre mit dem Sessellift ins Tal zurück, nahm ich mir vor. Daraus wurde nichts, der Lift ging aufgrund der Mittagspause nicht, und dumm herumstehen wollte ich auch nicht. Also weiter.

„Woher?“, fragte mich Massimo aus Pisa.

„Gebürtig aus Bozen, wohnhaft in Wien“, keuchte ich zurück.

„Ah, der Sohn des Kaisers“, scherzte er.

Mir war nicht nach Späßen zumute.

„Lass gut sein.“

Er ließ nicht locker. „Wie heißt du?“

„Tut nichts zur Sache.“

„Warum bist du hier dabei?“

„Weil ich ein Idiot bin.“

„Hahaha.“

Und dann blieb er wieder stehen, um Fotos zu schießen, lief zurück zu seiner Gruppe und hetzte wieder an mir vorbei. Der Mann muss eine Lunge wie ein Pferd haben, dachte ich.

Von über 2400 m ging die Strecke hinunter auf die Stilfserjoch-Passstraße, die für ihre 48 nummerierten Kehren berühmt ist und die zum zweithöchsten Alpenübergang führt. An der Franzenshöhe auf 2190 m, sechs Kilometer und 22 Kehren vor der Ziellinie blickte ich nach oben – und es schossen mir die Tränen in die Augen. Das schaffe ich nie und nimmer! Wie soll das gehen?! Einmal mehr dachte ich daran, alles gut sein zu lassen, den freundlichen Helfern an der Labestation zu sagen, dass dies hier ein Missverständnis sei und ich runter ins Tal wolle.

6000 Meter vor dem Ziel gibt man allerdings keinen Marathon auf, auch keinen Berg-Marathon. Ich senkte den Blick wie ein schmollendes Kind, starrte wie hypnotisiert auf den von der Sonne erwärmten Asphalt und stapfte trotzig los. Für mich begann ein neuer Wettbewerb. Nicht die Kilometer waren entscheidend, sondern die Kehren. Noch 20. Noch 17. Noch 14. Bald sind wir einstellig… und dann war ich im Ziel. In 7:53.24 Stunden, und nicht einmal als Letzter.

Auf 2757 Metern herrschte hektisches Treiben, weil die Passstraße nach Ablauf der Zielzeit von acht Stunden wieder für den Verkehr geöffnet wurde. Mein Freund Andreas, mit dem ich die ersten 14, 15 Kilometer bestritten hatte und der mir dann erwartungsgemäß davongelaufen war, hatte den „Stelvio“, seinen ersten Marathon überhaupt, in 6:22 Stunden geschafft: Chapeau!

Verfluchen war, idealisieren ist.

Der Stelvio, einfach nur eine niederträchtige, unnötige Qual? Na ja, das kann man so nicht sagen. Nie wieder einen Bergmarathon? Na geh, man kann nicht jeden Satz auf die Goldwaage legen. Und für die Tour de Tirol bin ich ja ohnehin schon gemeldet.

Einmal im Ziel, blickte ich gedanklich zurück und ließ die schönen Bilder des Laufs noch einmal an meinem geistigen Auge vorüberziehen: die Passagen in den bewohnten Zentren wie Glurns, Prad und Stilfs, wo ich von Interessierten am Straßenrand und kaffeetrinkenden Touristen auf den Terrassen angefeuert wurde; die steilen Herausforderungen, die auf den ersten Blick schier unüberwindbar schienen und dann doch machbar waren; die Wege im Gebirge über Stock und Stein, an den ausgesetzteren Stellen bewacht von Bergrettern und Sanitätern; der Ortler, 3905 m hoch, der an einem wunderschönen Sommertag von der anderen Seite des Tals hinüber- und hinunterblickte, so, als wolle er sagen: Sei froh, dass nicht mein Gipfelkreuz dein Ziel ist. Ja: Es hat sich gelohnt, hier gewesen zu sein und den Lauf bestritten zu haben.

Die Organisatoren rund um Gerald Burger haben ganze Arbeit geleistet. Diese sind seit vielen Jahren zwar auch für den Reschenseelauf verantwortlich (heuer am 15. Juli), doch ein Marathon birgt sicherlich andere, größere Herausforderungen, und was relevant war, hat bestens funktioniert.

Heute zu versprechen, dass ich 2018 wiederkommen werde, hätte den Wert eines Lippenbekenntnisses. Zu sehr habe ich mich gequält, als dass ich frohen Mutes schreiben würde können: Ja, ja, bitte, nächstes Jahr wieder. Ausschließen will ich es dennoch nicht. Weil es der Marathon in meiner Heimat ist. Weil er toll organisiert ist. Weil ich mir bewiesen habe, dass es machbar ist und ich eine Neuauflage mehr genießen könnte. (Ach ja, wenn ich mehr trainierte.)

Aber ganz egal, ob ich dabei bin oder nicht. Der Stelvio Marathon ist eine Reise, ist alle Mühen und Qualen wert. Er ist ein einzigartiges Erlebnis. Don‘t miss it.

 
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