NEUJAHRSVORSÄTZE UND DIE KUNST DES ERSTEN SCHRITTS
Kommt er Ihnen bekannt vor, der zynische Arbeitskollege, der selbst mit dem fachgerechten Erwärmen seines Bürostuhls vollumfänglich ausgelastet ist, aber trotzdem zu jedem Thema etwas Abwertendes vorzubringen hat? Oder der Onkel, der schon seit zwanzig Jahren bei jedem Weihnachtsessen hämische Kommentare an alle austeilt, deren Horizont über den neuen SUV oder die dicke Gehaltserhöhung hinausgeht?
Sich darüber zu echauffieren lohnt nicht, denn so ist die Welt nun einmal. Andauernd prasseln negative Einflüsse auf uns ein, und vermutlich torpedieren wir selbst öfter als uns lieb ist en passant anderer Menschen Gemütslage. Dennoch können wir uns zwei Dinge zu Herzen nehmen; erstens schadet es nicht, den eigenen sozialen Fußabdruck zu minimieren, und zweitens können wir den desillusionierenden Kräften mit einer einfachen Waffe entgegentreten: Begeisterungsfähigkeit. Inspiration liegt vor unseren Augen auf der Straße. Nicht nur im Sport, aber dort eben besonders plakativ. Mich selbst inspirieren weniger spezifische Sportarten als vielmehr ein elementarer Widerspruch, der vielen sportlichen Anstrengungen innewohnt: die gewollte Qual. Das beginnt beim verregneten Morgenlauf vor einem anstrengenden Bürotag und endet auf den lebensfeindlichen Achttausendern dieser Welt. Es ist ein bittersüßes Gefühl, sich an der eigenen subjektiven Grenze zu verausgaben, sich zu spüren. Wir leben nicht, wir leiben – hat ein befreundeter Arzt einmal zu mir gesagt. Diesen Ausspruch finde ich treffend, denn er zeigt, dass die (Ab-)Nutzung unseres Körpers etwas völlig Normales ist, auch wenn wir das heute zunehmend negieren. Ich plädiere nicht für flächendeckenden Leistungssport, aber so wie dreißig Trainingsstunden pro Woche als absurd wahrgenommen werden mögen, sollte dies für die völlige Bewegungslosigkeit ebenfalls gelten.
Sitzen ist das neue Rauchen; auch so ein Spruch, den ich während der Arbeiten an meinem neuen Buch aufgeschnappt habe und den ich nur unterschreiben kann. Nicht ein Mal hatte ich in einer Saison mit 900 Trainingsstunden auf dem Rad Probleme mit schmerzhaften Verspannungen, aber während ich zusammengekauert vor meinem Notebook sitzend diese Zeilen tippe, plagt mich ein steifer Rücken. Ein Anzeichen der erfolgreichen Domestizierung als Bürohengst, ohne Zweifel. Aber zurück zur Inspirationsquelle Sport. Was kann der im Alltagstrott gefangene Durchschnittsbürger wie Sie und ich nun von jenen Sportlern lernen, die mit beachtlicher Regelmäßigkeit über die per Mehrheitsentscheid als menschliche Grenze definierte Leistungsschwelle hinauswachsen? Ganz einfach: vielleicht sollten wir die Konventionen hinterfragen, die uns sagen, dass unser Morgenlauf vor dem Büro verrückt und verzichtbar ist. Oder sich in der Mittagspause Zeit für einen Besuch im Fitnesscenter zu nehmen. Vielleicht sollten wir wegkommen von der Stundenmaximierung im Büro, und zurückkehren zu einer sinnvollen Life-Work-Balance. Weil uns das schlussendlich auch im Job leistungsfähiger macht. Das beweist der österreichische Trailläufer des Jahres 2017, Florian Grasel, dem sein krisengeplagtes IT-Unternehmen um ein Haar ein handfestes Burnout bescherte, und der nach eigener Aussage erst durch den Sport genug Abstand fand, um sein Unternehmen auf den Erfolgsweg zu führen. Aber es wäre zu einfach, mich schon an dieser Stelle auf Ausnahmeathleten und Jahrhunderttalente zu berufen, denn dafür habe ich noch einige Blogeinträge lang Zeit. Stattdessen möchte ich Sie ermutigen, die Augen ganz bewusst für die naheliegenderen und, nicht despektierlich gemeint, alltäglicheren Beispiele zu öffnen. Für mich war das der Rennradfahrer, der mir im März schon um sechs Uhr früh in der Londoner U-Bahn entgegenkam, als ich auf der Heimreise von einer Tagung war. Oder mein Vorgesetzter, ein erfolgreicher und vielbeschäftigter Universitätsprofessor, der im Sommer selbst dann die 30 Kilometer ins Büro auf dem Rad zurücklegt, wenn pünktlich um acht Uhr ein voller Hörsaal auf ihn wartet. Auch diese Menschen wachen jeden Morgen mit einer leisen Stimme im Ohr auf, die sie davon abhalten will, sich mit Bewegung etwas Gutes zu tun. Aber ein entscheidender Faktor, die Routine, eingebrannt durch hundertfache Wiederholung, hilft ihnen, sich dennoch aufzuraffen. Diese Routine beginnt mit dem ersten Schritt, dem ersten Vorsatz. Bei jedem. Sollten Sie sich also zu Neujahr vorgenommen haben, sich wieder mehr zu bewegen, lassen Sie sich nicht belächeln, vor allem nicht von sich selbst. Schnüren Sie die Laufschuhe, steigen Sie aufs Rad, oder gehen Sie einfach eine Runde im Wald spazieren. Und dann wiederholen Sie das. Wieder und wieder. Kontinuität hilft Ihnen, nicht dauernd alles zu hinterfragen. Und irgendwann werden Sie bemerken, dass sich schleichend Ihr Selbstbild geändert hat. Sie haben die Routine des Sich-Bewegens zu einem Teil Ihrer selbst gemacht. Und auch Ihr Umfeld wird sie nicht mehr belächeln, denn die Vorfreude auf das Scheitern anderer ist ein Strohfeuer.
Warum aber dreht sich dieser Eintrag um gute Vorsätze? Nicht nur, weil sich ein neues Jahr vor uns entfaltet, oder weil ich Ihnen zu mehr Bewegung verhelfen will (wobei das tatsächlich eine nicht zu unterschätzende Quelle der Motivation für mich ist, Sport überhaupt zu thematisieren), sondern weil ich Ihnen vor Augen halten möchte, dass Sie selbst entscheiden, ob ein Vorsatz nur Gerede bleiben oder sich als tatsächliche Veränderung in Ihrem Leben manifestieren soll. In jedem von uns steckt Großes, wobei wir selbst definieren, was das eigentlich bedeutet. Für mich ist es das Schreiben eines Buchs, ein Kindheitstraum. Aber auch andere Dinge, die zu benennen mir vielleicht heute noch schwerfällt. Erlegen Sie sich so viele Grenzen auf wie nötig, aber auch nicht mehr als das. Finden Sie die Größe in sich und lassen Sie sich nicht die Flügel von jenen stutzen, denen das noch nicht gelungen ist und vielleicht nie gelingen wird. Das haben mich Scheitern und Erfolg im Sport gelehrt. Neben der unumstößlichen Tatsache, dass man selbst den ersten Schritt setzen muss, um voranzukommen. Denn (schlecht-)reden kann jeder.
In seinem Erstlingswerk "Randonnée" beschreibt David Misch in einer Mischung aus Nacherzählung und Tagebucheinträgen seine Erlebnisse bei den härtesten Radrennen der Welt. Jetzt widmet er sich unter dem Arbeitstitel "Bei sich: eine Spurensuche im Extremsport" der Portraitierung einiger der außergewöhnlichsten Persönlichkeiten des österreichischen Sports. An dieser Stelle teilt Misch ab Jänner 2018 regelmäßig Gedanken und Erlebnisse von der Idee bis zum fertigen Buch.
Coverfoto: (c) Marion Luttenberger