STAFETT ER STAFETT
Die Olympischen Winterspiele in PyeongChang sind Vergangenheit, die Schlussfeier liegt schon über eine Woche zurück und dennoch haben sich einige Eindrücke in meinen Gedankengängen eingefräst, die ich so schnell nicht mehr los werden kann (und will).
Mit Marit Bjoergen bei der Pressekonferenz (Foto: Kullebund)
Die Wochen in Südkorea waren kalt und erlebnisreich – und lehrreich. Sie haben mir, einem bekennenden Sportenthusiasten, einmal mehr gezeigt, auf was es bei Olympischen Spielen vorrangig ankommt. Großveranstaltungen haben wirtschaftliche, finanzielle, politische, gesellschaftliche Hintergründe, doch wenn man sich zu sehr, oder: ausschließlich, auf diese Aspekte konzentriert, verliert man den Blick für das Wesentliche. Für den Sport, und für all das, was wir für das Leben lernen und mitnehmen können.
Zwei von 21 sportlichen Entscheidungen, die ich live miterleben durfte, jagen mir heute noch Gänsehaut über den Rücken.
Es ist der 17. Februar, auf dem Programm der Nordischen steht der 4 x 5-Kilometer-Wettbewerb der Frauen. Norwegen ist Favorit, aber „Stafett er stafett“, hatte Langlaufgöttin Marit Bjoergen bei einer vorangegangenen Pressekonferenz gemeint und ein geflügeltes Wort ihres Heimatlandes bemüht. Übersetzt: „Ein Staffelrennen ist ein Staffelrennen“ – will heißen: alles kann passieren, nichts ist garantiert. Bei einem Staffelrennen, Geschichtsbücher zur Hand, sind Herausforderungen, Probleme, Widrigkeiten allemal einzuplanen auf dem Weg zur Medaille oder zum Sieg.
Gegen 11:15 Uhr MEZ, 19:15 Uhr Ortszeit, zeichnet sich das finale Duell zwischen Marit Bjoergen und Stina Nilsson ab. Die Schwedin ist vier Tage zuvor Sprint-Olympiasiegerin geworden und die Norwegerin weiß, dass sie in einer Fotofinish-Entscheidung die schlechteren Karten besitzt. Und was tut Bjoergen? Lanciert den Zielsprint gefühlt einen Kilometer vor dem Ende des Rennens. Das geht sich nicht aus, denke ich mir, sie wird einbrechen, das war viel zu früh. Und weiter: Es muss ihr jetzt die Kraft ausgehen. Das kann sie nicht durchstehen. Was hat sie sich dabei gedacht?!
Das Ergebnis ist bekannt. Bjoergen holt Gold für Norwegen, zwei Sekunden vor Nilsson. Spätestens seit diesem Tag bin ich ein Fan dieser Ausnahmeathletin, und nicht, weil Langlauf mein Lieblingssport ist (wer mich auf Ski gesehen hat, weiß, warum), sondern weil sie mir einmal mehr gezeigt hat, was machbar ist, wenn man an sich glaubt. Nun gut, Bjoergen hat alles mitgebracht, um zum Erfolg zu eilen – Topform, mentale Stärke, bestes Material, Erfahrung, richtige Taktik -, doch sie hätte es sich auch einfach machen können. Nilsson ist die stärkere Sprinterin, wer hätte sie verurteilt, wäre es lediglich Silber geworden?! Aber nein. Stafett er stafett, niemand hat gesagt, dass es einfach werden würde.
Vertrauen in die eigene Stärke, Überzeugung und Hingabe aufbringen, vom Denken ins Handeln kommen – und das Ziel erreichen. Bjoergens finale Staffel-Aktion ist so viel mehr als eine einfache sportliche Handlung, die mit Gold in PyeongChang ausgezeichnet wurde. Sie ist eine Metapher für erfolgreiches, erfülltes Leben, und in meinem Kleinen möchte ich sie nachahmen können.
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Ein paar Tage später steht der Team-Wettbewerb der Nordischen Kombinierer auf dem Programm. Deutschland ist haushoher Favorit, und Gold ist nach dem ersten Teil der Konkurrenz, dem Skispringen, de facto vergeben. Die Deutschen haben die stärkeren Langläufer, das wissen alle.
Doch im 4 x 5 km-Verfolgungsrennen liegen die Favoriten nach dem ersten von drei Wechseln gerade einmal zwölf Sekunden vor ihren Verfolgern aus Norwegen, Österreich und Japan. Niemand von diesen hat sonderlich Lust, sich auf die Jagd nach den Führenden zu machen, und so kommen Geiger, Rießle, Frenzel, Rydzek zu einem ungefährdeten Olympiasieg, mit fast einer Minute Vorsprung auf den Zweiten.
Den Gewinnern ist kein Vorwurf zu machen, aber eventuell den anderen? Schon klar: Norwegen hatte bis zu diesem Zeitpunkt keine Kombinations-Medaille gewonnen und gab sich lieber mit Silber als mit gar nichts zufrieden. Für Österreich war Platz drei ein Erfolg. Aber Deutschland einfach so ziehen zu lassen, ohne nichts versucht und unternommen zu haben? Das „Stafett er stafett“ wurde missachtet. Wer nichts wagt, der nichts gewinnt.
Nun ist es selbstverständlich absolut arrogant von mir als Außenstehenden Taktiken zu beurteilen und Entscheidungen zu kritisieren. Doch wäre ich Norwegens Trainer gewesen, hätte ich das „Stafett er stafett“ zelebriert und meine vier Leute darauf eingeschworen, das Unmögliche möglich zu machen. „Vielleicht“, hätte ich gesagt, „stehen wir in ein paar Stunden mit leeren Händen da. Aber wenn jeder von uns aus tiefsten Herzen, mit tiefster Überzeugung bereit ist, für Gold zu sterben, dann werden wir dafür auch beloht werden.“
Wir bejubeln Sieger und trösten (oder verspotten) Verlierer. Der Sport ist ein Sinnbild des Lebens, in konzentrierter, kompakter Form. Wir müssen nur genauer hinsehen, um uns zuweilen in Marit Bjoergen oder den norwegischen Kombinierern wiederzufinden. Besonders deswegen: Danke, dass ich in Korea dabei sein durfte.