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VORBILDER?

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Sportliche Großereignisse vom Schlage der Olympischen Spiele oder des Hahnenkamm-Wochenendes im Skizirkus dominieren die Massenmedien und bringen Social Media Kanäle zum Überlaufen. Athleten wie Marcel Hirscher berufen Pressekonferenzen ein, um sich über die Aufdringlichkeit der Presse zu beklagen; schräg, und doch hinterfragen wir, die nach Ablenkung geifernde Allgemeinheit, unsere Idole und die eigene hysterische Aufgegeiltheit nur zu selten. Umso tiefer dann der Fall, wenn das Image des integren Übermenschen nicht standhält, sei es aufgrund von Dopingvorwürfen, privaten Zerwürfnissen oder schlicht, weil die Formkurve abfällt. Christian Schiester bringt es in unserem Interview auf den Punkt: Brot und Spiele für das Volk, angekommen im 21. Jahrhundert. So weit so gut, aber frequentiert man die oben genannten Massenmedien, so kommt man gleichsam nicht umhin, die zig Katastrophen und weltpolitisch bedeutsamen Begebenheiten wahrzunehmen, die täglich unser Leben prägen. Ist man außerdem, wie ich, nicht fähig, diese Vorkommnisse vollends auszublenden, so ist man zur Konfrontation gezwungen. Für ein Buch über die exzessivsten Ausprägungen sportlicher Selbstverwirklichung ist es unabdingbar, auch die gesellschaftliche Rolle des Sports zu thematisieren. Als regelmäßige Bewegung vom Arzt verordnet, stellt sich spätestens bei 20+ Wochenstunden Training die Frage nach der Vereinbarkeit mit sozialen Agenden und auch, wie absurd es eigentlich ist, einer scheinbar so sinnlosen und egoistischen Tätigkeit derart viel Raum zu geben.


Ein Schlüsselerlebnis hierzu hatte ich vor Jahren, als es mich aufgrund meiner Geologentätigkeit in einen Bergbau nahe der chinesisch-koreanischen Grenze verschlug. Außer Armut und Luftverschmutzung gab es dort nicht viel, nicht umsonst verbringt der übliche chinesische Arbeiter (nach meiner Erfahrung) etwa hundert Wochenstunden im Büro zu, wenn auch teilweise schlafend. Ich hingegen konnte nicht stillhalten und so schnürte ich die mitgebrachten Laufschuhe, praktisch jeden Tag vor Dienstbeginn oder abends in der Dämmerung. Anfangs von den Dorfbewohnern kritisch beäugt (und von dem ein oder anderen Hund gejagt), weckte ich bald das Interesse einiger aufgeschlossenerer Zeitgenossen, und plötzlich wurden mir Wassermelonen und andere Erfrischungen gereicht. Einmal kam ich während einer dieser willkommenen Pausen mit einem Einheimischen ins Gespräch, der zumindest ein paar Brocken Englisch sprach. Wieso ich hier tagein, tagaus auf und ab lief, konnte ich ihm jedoch nicht schlüssig erklären, und als ich wieder von dannen zog, lächelte er mir nur milde hinterher. Zurück an meinem Arbeitsplatz erwähnte ich die kuriose Begegnung gegenüber dem uns zugeteilten Dolmetscher und er musste herzhaft lachen, denn für ihn war die Reaktion des Melonenverkäufers nur zu verständlich. Das Konzept aktive Freizeitgestaltung existiere nur, wo das Essen auf dem Tisch zur Selbstverständlichkeit verkommen sei. Wieso unnütz Energie verbrennen durch das ziellose Herumspringen in der Gegend? Die verbleibenden Wochen bis zu meinem Rückflug beschäftigte mich diese, durchaus ernstgemeinte, Frage, und läuferisch aktiv beschlich mich fast schon ein schlechtes Gewissen ob meiner Dekadenz. Zum Ende meines Aufenthalts schien sich jedoch auch in den Dorfbewohnern der Spieltrieb Bahn zu brechen, denn immer öfter wurde ich ein paar Schritte im Laufschritt oder mit dem klapprigen Drahtesel begleitet.


Zurück bleibt die spannende Frage, welchen Grad an Individualismus, für mich gleichbedeutend mit dem Luxus, frei über die eigene (Frei-)Zeit verfügen zu können, eine soziale Lebensführung verträgt. Man könnte doch immer etwas Sinnstiftenderes anfangen, als durch den Wald zu irren oder stundenlang an irgendwelchen Felsblöcken herumzukraxeln, die auch noch stehen werden, wenn wir schon lange unter einer Schicht aus Mikroplastik (Vorsicht, Modewort) begraben sind. Nun, offensichtlich hält mich persönlich diese soziale Unverträglichkeit nicht im Zaum, und dafür habe ich mir eine, zutiefst subjektive, Rechtfertigung zurechtgelegt. Für mich bringt der Luxus, Freizeit, sowie die finanziellen Mittel, sie nach dem eigenen Gutdünken zu füllen, zur Verfügung zu haben, letztlich auch die Verantwortung mit sich, diese Gelegenheit sorgsam zu nutzen. Das beinhaltet nicht nur, sich nicht mit der neuen Staffel von irgendeinem Schwachsinn im Fernsehen zufrieden zu geben, sondern auch, sich und dem eigenen Nachwuchs zu jeder Zeit bewusst zu machen, wie privilegiert man sich fühlen darf, das reichhaltige Natur- und Kulturangebot auskosten zu können, welches Österreich und seine wohlhabenden Nachbarstaaten zu bieten haben. Missgunst und Unvermögen, die Schönheit unseres Landes zu teilen, wenn ich mir diese politische Anspielung erlauben darf, haben in meinem Weltbild hingegen keinen Platz. Generell ist es paradox, dass gerade in den hochzivilisierten Ländern die Unzufriedenheit überzuborden scheint, während in den armen Regionen trotz der Widrigkeiten des Lebens der Glücksfaktor höher ist. „In den Gesichtern der wettergegerbten Nepalis spiegelt sich eine tiefgründige Gelassenheit, die du bei uns nicht finden wirst“, schildert Peter Habeler, und auch Wolfgang Fasching gibt sich beeindruckt von dem hartgesottenen Bergvolk, das ihn Demut gelehrt habe. „Totale Akzeptanz“ war der Leitspruch meines Freundes Severin Zotter, den ich 2015 bei seinem RAAM-Sieg als Rookie begleiten durfte, und kaum jemand weiß mit Niederlagen so umzugehen wie Christoph Strasser, der dem legendären Ultracycling-Bewerb die erste Zeit unter acht Tagen abringen konnte. Solche An- und Einsichten sind es übrigens, die weltgewandten Abenteurern meiner Meinung nach die inspirierende Würze verleiht, während man über den absoluten Sinn ihrer Unternehmungen durchaus geteilter Meinung sein kann.


Doch ja, ich glaube auch an einen gesellschaftlichen Nutzen von Grenzgängern als Testimonials für ein Leben voller Intensität, Vielfalt und Farbe. Um es mit dem bekannten Philosophen Franz Schuh zu halten, eine Gesellschaft ohne Werbung sei meist eine düstere. Nicht, weil Werbung per se so wertvoll ist, sondern weil das fast schon persiflierend idealisierte Leben in ihr uns zum Nachdenken und, durchaus nicht immer zurecht, Nachahmen inspiriert. Entscheidend ist also, dass wir erfolgreiche Menschen nicht (ausschließlich) lobpreisen, sondern in der Lage sind nachahmenswerte Eigenschaften zu erkennen, und sie uns, wenn auch mit einem gelegentlichen Augenzwinkern, sukzessive selbst anzueignen. Colum McCann, ein bekannter irischer Romanautor, schreibt beispielsweise in seinem jüngsten Werk Letters to a Young Writer sinngemäß: „Warte nicht auf die Inspiration, sondern setz‘ dich auf deinen Arsch und ring‘ dir Zeile um Zeile ab.“ Also tue ich ihm den Gefallen, auch wenn die Couch mich magisch anzieht. Halten Sie es auch so; himmeln Sie ihre Stars ruhig an, aber um ihnen ein Stück des Weges zu folgen und nicht, um sie auf ein Podest und damit nutzlos in die Ecke zu stellen. Sie werden merken: Konsequenz schafft Selbstzufriedenheit, diese wiederum Ausgeglichenheit und so weiter, bis Sie es nicht mehr nötig haben, jemand anderes Leben dem eigenen vorzuziehen. Das wünsche ich Ihnen.


Beim Interview mit Ultracycling-Ikone Christoph Strasser

 

In seinem Erstlingswerk "Randonnée" beschreibt David Misch in einer Mischung aus Nacherzählung und Tagebucheinträgen seine Erlebnisse bei den härtesten Radrennen der Welt. Jetzt widmet er sich unter dem Arbeitstitel "Bei sich: eine Spurensuche im Extremsport" der Portraitierung einiger der außergewöhnlichsten Persönlichkeiten des österreichischen Sports. An dieser Stelle teilt Misch ab Jänner 2018 regelmäßig Gedanken und Erlebnisse von der Idee bis zum fertigen Buch.


Coverfoto: (c) Marion Luttenberger


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