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DIE ÄSTHETIK DER PERFEKTION


…sie ist es, die mich nach wie vor Sportereignisse wie die Tour de France verfolgen lässt, Doping- und Betrugsskandalen zum Trotz. Attribute wie Tretleistung und Durchschnittsgeschwindigkeit empfinde ich mittlerweile als beliebig, nicht greif- oder verifizierbar aus der Ferne. Aber die Ästhetik der Perfektion, ja, die hält selbst den verruchtesten Praktiken stand, sie kann ich auch vor dem Fernsehschirm erleben, und, was noch wichtiger ist, sie lässt sich nicht so leicht manipulieren wie ein physischer Leistungsparameter. Das perfektionierte Timing macht den Massensprint oder die nadelstichartig (schrecklich doppeldeutig) lancierte Bergattacke im Radsport sehenswert, der Kontrast zwischen fliegendem Skatingschritt und stoischer Ruhe beim Schießen den Biathlonbewerb zur kurzweiligen Abwechslung beim Ergometertraining im Winter. Im Moment hat es mir aber, bedingt durch einen Gastaufenthalt in den Niederlanden, ganz besonders ein Sport angetan: das Cyclocross.


In Österreich weitgehend unbekannt, stellt es in Belgien und den Niederlanden das Äquivalent zum heimischen Skisport dar, was kolportierte 80.000 Zuseher bei der Weltmeisterschaft in Valkenburg (Limburg) Anfang Februar dokumentieren. Cyclocross ist sozusagen eine spannungsgeladene Mischung aus Rennradfahren, Geländelauf und Mountainbiken, ausgetragen in den kalten Monaten des Jahres auf meist katastrophal matschigem Untergrund, der die Fahrer zu akrobatischen Einlagen und ständiger Improvisation zwingt. Die Rennen scheinen häufig im Chaos zu versinken, doch irgendwie setzen sich doch meist dieselben Akteure an die Spitze und beherrschen es, das labile Gleichgewicht zwischen maximaler Geschwindigkeit und Materialschonung zum eigenen Vorteil zu nutzen. Sie wechseln beliebig zwischen Pedalumdrehung und Laufschritt, dabei ist es, glauben Sie mir, selbst für einen ambitionierten Nachahmer ein Leichtes, mit dem Gesicht voran im Dreck zu landen, sollte ihn beim Absprung vom kohlefasergefertigten Gaul eine Fehleinschätzung von Tempo oder der Distanz zum heraneilenden Hindernis heimsuchen. Was bei den Profis so spielerisch leicht aussieht, verlangt millionenfache Repetition, wie auch der Strich des Geigers erst reifen und durch fingermarterndes Üben an Bestimmtheit gewinnen muss. Inspiration kann nur den Anstoß geben, Konsequenz bringt die Perfektion. „Progress does NOT ignore dedication“, schreibt der amerikanische Paraathlet André Kajlich. 2017 finishte er als erster Handbiker solo das Race Across America, nach mehreren missglückten Qualifikationsversuchen, die ihn an den Rand der Aufgabe brachten. Auch Thomas Frühwirth, der paralympische Silbermedaillengewinner von Rio 2016 (und einer meiner Interviewpartner), sieht in der Perfektion das wahre Extrem im Leistungssport und geht so weit, Mehrkampfturnen als den Extremsport schlechthin zu bezeichnen.


Die Ästhetik der Perfektion findet sich aber auch in einer wohlformulierten Zeile und blitzt hervor, wenn sich die Puzzlestücke eines aufwändigen Projekts schlussendlich doch zusammenfügen. Was für Christoph Strasser den Reiz des Race Across America ausmacht, erlebe ich gerade beim Schreiben. Nein, nicht meine schriftlichen Ergüsse halte ich für perfekt (ach, wären sie es nur), aber das zufriedene Gefühl, Gespräche mit immerhin achtzehn vielbeschäftigten Protagonisten unter einen Hut gebracht zu haben, kommt nahe daran. Achtzehn? Nicht ganz, denn einen der interessantesten Gesprächspartner habe ich mir als krönenden Abschluss aufgehoben. Im März werde ich Apnoe-Weltrekordler Herbert Nitsch, den „Deepest Man on Earth“, in Südfrankreich treffen, worauf ich mich wie ein kleines Kind freue. Nicht nur, weil das abschließende Interview mit ihm perfekt die Dramaturgie des Buchs abrundet, sondern weil ich mich längst über den Point Of No Return hinausgeschrieben habe, und das Gefühl sich breitmacht, dass die Geschichte ein stimmiges Bild für den Leser abgeben wird. Eigenlob stinkt, Sie haben Recht, aber ich möchte mich auch nicht loben, sondern zum Ausdruck bringen, dass es letztlich nur darauf ankommt, sein Herzblut in eine Sache gesteckt und damit das Beste herausgeholt zu haben. Diese Geisteshaltung zu verinnerlichen benötigt ebenfalls Übung; nicht selten schielt man gerade in Stresssituationen nach links und rechts und ist verleitet, einem Sport- oder Arbeitskollegen die Leistung oder, wie im Falle meiner Schreibversuche, einem lyrisch begabteren Autor die elegante Formulierung zu neiden. Charakterliche Perfektion, wenn man sie so bezeichnen will, ist wohl noch schwieriger zu erreichen als physische, und man sollte verbesserungswillig, aber nicht zu streng mit sich sein.


„Ich bin eine mir selbst unbegreifliche Mischung aus Faulheit und Aktivität“, gibt sich der Wiener Schriftsteller und Philosoph Franz Schuh in einem Interview selbstkritisch. Oder eigentlich nicht, denn er kann nach eigener Aussage gut mit der eigenen Neigung leben, den Herrgott auch einmal einen guten Mann sein zu lassen. Vielleicht führt der Weg zur Perfektion auch über die Akzeptanz der eigenen Unzulänglichkeit, denn der Publikationsoutput von Herrn Schuh spricht für sich und seine Ausführungen zu Glück, Liebe oder Leidenschaft gehen vielleicht gerade deshalb dem (denkwilligen) Leser unter die Haut, weil sie einem nicht über weltliche Laster erhabenen Geist entsprangen. Vielleicht verleiht auch Hansjörg Auer, dem furchtlosen Alpinisten und Free Solo-Kletterer, der erst kürzlich mit seinem autobiographischen Buch Südwand ein gefühlvolles, literarisches Statement abgab, die selbst angekreidete Neigung zur Imperfektion, was die Organisation seiner Ausrüstung oder von Nebensächlichkeiten des alltäglichen Lebens angeht, erst die psychische Stabilität, Expeditionen an den entlegensten Orten der Welt durchzustehen und in den Jetzt zählt es-Momenten auf die eigene Improvisationsfähigkeit zu vertrauen.


Übrigens: Vielleicht fragen Sie sich, was denn bis zum Veröffentlichungstermin im Spätsommer noch kommen soll, wenn das Rohmanuskript doch schon unmittelbar vor seiner Vollendung steht. Keine Sorge – ein ausgiebiger Check von Verleger Egon Theiner und seiner kongenialen Lektorin Lisa Krenmayr, der ich schon mein erstes Buch anvertrauen durfte, sowie die grafische Aufbereitung durch Clemens Toscani vom Studio Toscani, werden mir noch genug Gelegenheit geben, hier einige Interviewschmankerl zum Besten zu geben, bevor schlussendlich ein auf Herz und Nieren geprüftes Produkt, entstanden in perfekter [sic!] Teamarbeit, die Hallen des Egoth Verlags verlässt. Und dann heißt es: Wer findet den ersten Fehler?


Anm.: Auf Einladung des ÖRV durfte ich das Cyclocross-Spektakel in Valkenburg hautnah miterleben und konnte so einem historisch bedeutsamen Ereignis für österreichische Radsportfans beiwohnen: Nadja Heigl holte im U23-Bewerb der Damen sensationell die Bronzemedaille und damit das bislang beste Ergebnis eines österreichischen Athleten bei einer Cross-WM.


Beim WM-Eliterennen der Damen in Valkenburg (Limburg, NL)

 

In seinem Erstlingswerk "Randonnée" beschreibt David Misch in einer Mischung aus Nacherzählung und Tagebucheinträgen seine Erlebnisse bei den härtesten Radrennen der Welt. Jetzt widmet er sich unter dem Arbeitstitel "Bei sich: eine Spurensuche im Extremsport" der Portraitierung einiger der außergewöhnlichsten Persönlichkeiten des österreichischen Sports. An dieser Stelle teilt Misch ab Jänner 2018 regelmäßig Gedanken und Erlebnisse von der Idee bis zum fertigen Buch.


Coverfoto: (c) Marion Luttenberger

 

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