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"OLYMPIASIEG, OLYMPIASIEG!"

Heute vor 24 Jahren gewann Skispringer Jens Weißflog seine zweite Einzel-Goldmedaille bei Olympischen Winterspielen. Platz eins schien nach dem ersten Durchgang an Espen Bredesen vergeben, doch im Finale wandte sich das Blatt...

Zehn Jahre und acht Tage sind vergangen, seit ich in Sarajevo triumphiert habe. Damals wie heute trete ich als Mitfavorit an. Die deutsche Meisterschaft in Oberstdorf habe ich von der Großschanze gewonnen, das Abschlusstraining in Predazzo ist nicht optimal verlaufen, doch ich bin Bester des Teams und habe ein Gefühl für meine Sprünge. Einige Tage Pause tun mir gut, dann geht es auch schon nach Skandinavien.

Das Duell, das sich abzeichnet, ist jenes zwischen Espen Bredesen und mir. Wir sind die beiden dominierenden Figuren des Winters 1993/94. Er gewinnt die Vierschanzentournee, ich werde Zweiter. Er gewinnt den Gesamtweltcup, doch bis zum letzten Wettkampf habe ich auch alle Chancen auf die große Kristallkugel, die der Internationale Skiverband (FIS) als sichtbares Zeichen für den Saisonbesten vergibt. Im Training von Lillehammer beäugen wir uns wie zwei Boxer im Ring. Wie weit springt er in diesem Durchgang? Welchen Sprunganzug trägt er? Welche Überraschungen, sofern es welche gibt, zieht er noch hervor aus seiner Trickkiste? Ich absolviere an den drei Übungstagen lediglich sechs von neun möglichen Sprüngen, erreiche bis zu 135 Meter und überspringe die letzte rote Linie, die in den Schnee gemalt ist: So gut läuft es.

Dann kommt der 20. Februar und meine Gedanken kreisen um einen Medaillengewinn. Fünf von elf Weltcup-Konkurrenzen habe ich gewonnen in diesem Winter, und mit jedem Sieg steigt auch die persönliche Erwartungshaltung beim Saisonhöhepunkt. Mit dem hehren Motto Pierre de Coubertins „Teilnehmen ist wichtiger als siegen“ habe ich mich noch nie anfreunden können, viel näher stehen mir die Worte der tschechisch-amerikanischen Tennisspielerin Martina Navrátilová, die einmal gesagt hat: „Derjenige, der sagt, dass teilnehmen wichtiger als siegen ist, hat wahrscheinlich verloren.“ Wie auch immer, in meiner Situation nicht an eine Medaille zu denken, wäre einfach bekloppt! Doch Gold kommt mir nicht in den Sinn, unter Druck setze ich mich nicht. Wenn nur Gold zählt, ist Silber bereits eine große Enttäuschung.

Mein erster Sprung ist nicht vom Wind begünstigt, ich spüre wenig Druck unter meinen Skiern. Nach der Landung überfahre ich noch zwei Linien und denke mir, na ja, eher zu kurz, wohl 124 Meter. Mir ist entgangen, dass am Wettkampftag noch weitere Linien bis zur 140-m-Marke gezogen worden waren, und ich mit meinem Sprung 129,5 Meter erreiche. Ich befinde mich schon wieder mit dem Physiotherapeuten auf dem Lift nach oben, wir passieren den Vorbau, als Espen Bredesen antritt. Ich blicke über meine Schultern zurück, sehe die Windfähnchen und sage zu Rudi Lorenz: „Der ist locker über 130 Meter.“ Tatsächlich sind es 135,5 Meter, die dem Mann aus Trondheim eine überlegene Führung verschaffen.

Bei den herrschenden Bedingungen mit einigermaßen stabilen Windverhältnissen weiß ich, dass der Kampf um Gold schwer wird. Vielleicht kann ich im zweiten Durchgang zwei, drei Meter weiter springen als der Norweger, sinniere ich, aber mehr auch nicht. Doch es sind nicht Gefühle der Unzufriedenheit, die in mir hochsteigen. Bei gleichen Bedingungen, das ist mir klar, sind wir gleich stark. Mein Wettkampfsprung ist, gemessen an den Bedingungen, die ich vorfinde, viel wert. Ich präpariere meine Ski für den Finaldurchgang, halte mich mit Gymnastik und Sprungimitationen warm, schaue kurz in unseren Mannschaftscontainer hinein, gehe wieder hinaus, in einen schönen, minus 10 Grad Celsius kalten Tag.

Zur gleichen Zeit kämpft Bredesen mit einer Sehnenverletzung im rechten Fuß. Zugezogen hat er sich diese bei einem Sturz Mitte Januar in Liberec. Nach dem Sieg am ersten Tag landet er 24 Stunden später im zweiten Durchgang kopfüber im Schnee und wird hinter Jaroslav Sakala (Tschechien) immer noch Zweiter. Und diese Verletzung machte sich nun vor dem Probedurchgang erneut bemerkbar. Bredesen kann keine Aufwärm- und Imitationsübungen machen, und in der Pause vor dem Finale ist er ein Fall für den Teamarzt und nicht für den Trainer.

Dennoch ist er überzeugt, dass er gewinnen wird. Die Verletzung hemmt und nimmt Fokus vom Wesentlichen, aber der Vorsprung ist groß genug, oder besser: sollte groß genug sein. So wie ich denkt auch er: Gold ist vergeben. Und so wechselt er auch den Anzug. Im ersten Durchgang ist Espen Bredesen mit einem Meininger-Produkt gesprungen, zum zweiten tritt er mit einem der Marke Mizuno an. Das japanische Unternehmen ist der offizielle Ausrüster des norwegischen Springerteams, doch im Laufe der Saison fühlt sich Bredesen in deren Anzügen nicht immer wohl. Er tauscht also in Bekleidungsfragen zwischen den beiden Anbietern hin und her. Im Mizuno-Sprunganzug gewinnt er das Neujahrsspringen von Garmisch Partenkirchen, mit 7,6 Punkten Vorsprung vor mir. Mit dem Sieg in Lillehammer vor Augen will er die Asiaten glücklich machen. „Espen traut sich was“, denke ich mir, als ich ihn in diesem Aufzug sehe.

Ich bin mir bewusst: Ein guter Sprung ist einer, in den man alles reinlegt. Bei unsicheren Windverhältnissen ist ein Risikosprung sicherer als ein abwartender. Ich weiß, dass es keinen berechnenden Sprung gibt. Ich kann nicht mit drei Viertel meiner Kraft abspringen. Und warum auch? Um Silber abzusichern? Mein Vorsprung auf den Dritten, Andreas Goldberger, beträgt gerade mal 0,3 Punkte. Ein Weitenmeter wird mit 1,8 Punkten bewertet, mein Guthaben auf den Österreicher ist also vernachlässigbar. Doch darum geht es nicht. Es geht darum, nach vorne zu schauen, den Abstand zu Bredesen zu verkürzen, die Chance auf den Sieg zu wahren – Gold aufzuheben, sollte er sich entscheiden, es wegzuwerfen.

Kurz noch vier Worte an den vor mir springenden Andreas Goldberger, „mach‘s gut, viel Glück!“, dann bin ich in meinem Tunnel und denke nur noch an meinen bevorstehenden Sprung. Diesmal finde ich sehr gute Bedingungen vor und lande bei 133 Metern. Bredesen, der gleich nach mir als Letzter der Konkurrenz in die Anlaufspur geht, ist weniger glücklich mit den Verhältnissen, er springt elf Meter kürzer. Gebraucht hätte er 129 Meter, und ob er diese, körperlich lädiert und mental zu wenig fokussiert, mit einem Meininger-Anzug erreicht hätte, darf bezweifelt werden.

An der Umzäunung am Auslauf stehen meine Betreuer und rufen mir zu, dass ich gewonnen habe: „Du hast es!“ Noch bleibe ich ruhig und abwartend. Durch meinen Kopf rasseln Zahlen wie bei einem Mathematiktest. Er ist insgesamt sieben Meter kürzer gesprungen als ich, aber was passiert mit den Haltungsnoten? Ich will, ich brauche die Anzeigentafel. Ich will sehen, dass unter seinem Namen die Zahl „2“ aufleuchtet. Als dies geschieht, juble ich richtig los. Es liegen schwere, medaillenlose Jahre hinter mir, und ich habe mir nicht erst in Lillehammer vorgenommen, nicht zurückhaltend zu sein, wenn ich Emotionen zeigen kann.

Zehn Jahre nach Sarajevo und aufgrund des aktuellen Saisonverlaufs wäre ich auch mit Rang zwei hoch zufrieden gewesen. Doch es ist Gold! Ich schreie meine Freude aus mir heraus, während Co-Trainer Wolfgang Steiert wie ein Rumpelstilzchen durch den Auslauf tobt und wie am Spieß brüllt: „Olympiasieg! Olympiasieg!“

Jens Weißflog wurde am 12. Februar 1984 in Sarajewo und am 20. Februar 1994 Olympiasieger (und in Lillehammer am 22.2. auch Goldmedaillengewinner mit dem Team). Obiger Text entstammt seiner Autobiographie „Geschichten meines Lebens“.

 
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