IN MEMORIAM ALBERT GRÜNER
Am heutigen 2. April jährt sich zum ersten Mal der Todestag eines sehr guten Freundes und wunderbaren Menschen. Der Ötztaler Albert „Ali“ Grüner kam bei einer Bergwanderung auf seinen Hausbergen durch einen Absturz ums Leben. Begegnungen mit dem Tod hatte Grüner im Laufe seiner Kletterei in den 1980er und 1990er Jahren schon öfter, und er entkam Situationen, die dramatischer und gefahrvoller waren als jene vor Jahresfrist.
Als ich vom Tiroler Sportkletterer Lukas Ennemoser in der zweiten Jahreshälfte 2012 kontaktiert wurde, und er mir eine neue Buch-Idee nahelegte, wusste ich weder, wer Albert Grüner war, noch, dass er einer meiner besten Freunde werden sollte. In den darauf folgenden Monaten erarbeiteten wir ein Werk, genannt „Seilfrei“, das ich zu meinen wertvollsten Büchern zähle, sei es als Ghostwriter, sei es als Verleger. Es mag eine Rolle spielen, dass unsere Geschichten nicht gleich, aber ähnlich sind. Ali Grüner verlor seinen Bruder in den Bergen, ich meinen Vater. Wenn man will, kann man Parallelen finden und ziehen.
Wir sind zu dritt an jenem 4. Januar 2005, mitten im unwegsamen Gelände oberhalb von Oberried bei Längenfeld – Otto, der Tod und ich. Wir stehen in einer Rinne, Schulter an Schulter, und während ich mir überlege, wohin ich meine nächsten Schritte machen sollte, während ich im Begriff bin, weiter abzusteigen, geht Otto an mir vorbei. Der Tod muss erstarrt sein wie ich, denn eigentlich war er doch mitgekommen, um endlich mich zu holen. Doch jetzt verliert mein jüngerer Bruder auf jener Eisplatte, die für mich bestimmt war, das Gleichgewicht, jetzt rutscht er ungebremst auf dem Hosenboden etwa 15 Meter dem Abgrund zu, chancenlos, aus der Rinne zu entkommen. Er stürzt über die Kante, schreit auf, als er sieht, wohin er fallen wird. Es ist einer jener angsterfüllten, unheimlichen Laute, die nichts Gutes versprechen und bei denen man weiß, dass sich Schlimmes zuträgt. So, wie die Eltern am Schreien ihrer Kinder wissen, wie ernst oder wie harmlos die Lage ist, so fährt mir sein Schrei durch Mark und Bein.
„Der Berg nimmt und gibt. Er gibt Freude, Befriedigung und Begeisterung. Er spornt zu Höchstleistungen an. Er lässt persönliche Leistungsgrenzen verschieben. Doch wer diese überschreitet, nimmt die Anwesenheit des Todes in Kauf. Im schlimmsten aller Fälle nimmt der Berg – das Leben“, schrieb Ali Grüner in „Seilfrei“. Und er führte aus, dass er nicht der Erste und der Beste auf den Bergen war, sondern als Abenteurer und Suchender nach Selbstverwirklichung trachtete. Als herausragenden Akteur an steilen Wänden hat er sich nicht gesehen. Gute Bergsteiger würden alt werden, sagte Albert Grüner, und kokettierte: Er werde es, weil er damit aufgehört habe.
Was für eine Ironie des Schicksals, dass Ali dann doch im Gebirge ums Leben kam.
„Seilfrei“ war 2013 ein schöner Erfolg beschert. Im Längenfelder Aqua Dome war der Veranstaltungssaal pumpvoll, als Grüner sein Werk präsentierte, das eine Schilderung seiner wagemutigen und schönsten Berg- und Klettertouren darstellt, gleichzeitig aber auch eine Hommage an seinen Seilpartner und Bruder Otto – und unter diesem Aspekt auch Alis Art der Vergangenheitsbewältigung - war und ist.
… ich gerate ins Stolpern und stürze mit dem Kopf voran Richtung Matterhorn-Ostwand. Mein Schrei lässt Otto hochschrecken. Im Vorbeifallen greift er nach mir und ich nach ihm, und da hänge ich nun: an seinem Rücken und kralle mich um seinen Hals, um ja nicht weiter abzustürzen. Ich spüre, wie der Tod an meinem Rücken klebt, wie er seine Arme wiederum um meinen Hals gelegt hat, nicht, um sich auch festzuhalten, sondern um mich loszuzerren von meiner aktuellen Lebensader – dem Körper meines Bruders. Meine Beine hängen in der Luft, und Otto hat größte Mühe, uns beide zu halten. Er umklammert einen tischgroßen Felsbrocken, doch mit weit aufgerissenen Augen beobachten wir beide, wie dieser Stein langsam, ganz langsam, in Bewegung gerät. Mit mir und dem Tod auf seinem Rücken, mit den Füßen irgendwo an der Felswand, hangelt sich mein Bruder vorsichtig, aber geistesgegenwärtig immer schneller nach rechts Richtung Hörnligrat zum nächsten Stein – und dies gerade rechtzeitig. Der erste löst sich aus dem Felsen und donnert weit über 1000 Meter durch die Ostwand hinunter, an deren Fuß er zerschellt. Ich muss schlucken. So habe ich mir das Ende eines Freudentages eigentlich nicht vorgestellt.
Ali Grüner führte mich in die Längenfelder „Nepomuk“-Weinbruderschaft ein, und wann immer ich Gelegenheit hatte – leider viel zu selten – schaute ich bei ihm im Ötztal vorbei. Nun ist er nicht mehr, und viele Ideen, die wir hatten, von gemeinsamen Berg-Wanderungen bis zu einem zweiten Buchprojekt, werden unvollendet bleiben.
Es bleibt ein Satz aus „Seilfrei“, der Grüner trefflich charakterisiert. „Doch würde ich wissen, dass mich morgen der Sensenmann holen kommt, dann würde ich heute noch in die Welt hinausschreien: Es hat sich allemal gelohnt zu leben, mein Leben!“