top of page

1:0 ROSSI, 2:1 ROSSI, 3:2 ROSSI

Einer der großen Abwesenden der laufenden Fußball-Weltmeisterschaft ist Italien. Vor 12 Jahren gewannen die "Azzurri" ihren bislang letzten (vierten) Titel, vor 36 Jahren ihren dritten. Mit einem Sensationsspiel gegen die damaligen Superstars aus Brasilien...

Enzo Bearzot mit Italiens Staatspräsidenten Sandro Pertini (Foto: Presidenza della Repubblica)

Deckung und Konterspiel: Das sind die Schlüsselworte für Italien-Trainer Enzo Bearzot in Hinblick auf das Match mit Brasilien. Doch wie decken und wen, da Paulo Roberto Falcao, Arthur Antunes Zico Coimbra, genannt Zico, genannt „der weiße Pelé“ und Co. es doch gewöhnt sind, den ganzen Platz auszunutzen und sich nicht immer nur auf ihren Bahnen aufzuhalten? Also: Manndeckung, wenn der Gegner in Ballbesitz ist, Raumdeckung, wenn Italien in die Offensive geht. Claudio Gentile wird auf Zico angesetzt, Fulvio Collovati auf Serginho. Und der Schiedsrichter ist ein alter Bekannter, der Israeli Klein, jener, der schon auf dem Platz stand, als Italien bei der WM 1978 Argentinien die einzige Turnierniederlage (0:1) zugefügt hat.

Es vergehen keine drei Minuten, und schon serviert Marco Tardelli ein Assist auf „Pablito“ Rossi, der wie ein Anfänger vergibt. (Und wieder wird die Frage laut in den Köpfen und auf den Zungen der Tifosi: Warum wurde der überhaupt mitgenommen, und warum zum Teufel spielt er immer?) Zwei Minuten später bedient Antonio Cabrini den Mittelstürmer, und diesmal beweist Rossi Köpfchen. Es steht 1:0, und man weiß nicht, ob die Freude oder das Erstaunen darüber größer ist. Die nächsten Chancen sind brasilianische, mit Zoff, der einmal vor den Füßen von Serginho retten kann und sich in der 12. Minute nach einem Schuss von Socrates Brasileiro Sampaio Vieira de Oliveira, genannt Socrates, geschlagen geben muss. Wieder eine Minute später erhält Gentile nach einem Foul an Zico gelb gezeigt, und Brasilien übernimmt das Kommando. Falcao ist von der Fußball-Göttin geküsst, Eder schießt mit einer Geschwindigkeit von 114 km/h. Doch Italien ist nicht das Kaninchen vor der Schlange Brasilien. Ein Missverständnis in der Abwehr zwischen Cerezo und Junior nutzt Rossi aus, erobert sich die Kugel, läuft einige Meter und schlägt Peres, 2:1, Italien erneut im Halbfinale. Die erste Halbzeit endet mit einem Sturmlauf der Südamerikaner. Zico und Socrates finden Chancen vor, Eder hämmert seine Freistöße in die Mauer, und Gentile zerreißt das Trikot Zicos.

In der zweiten Hälfte überschlagen sich die Ereignisse. Ein Schuss Falcaos geht knapp am Pfosten vorbei (48.), Bruno Conti vergibt ein leichtes 3:1 (51.). Zwei Minuten später reklamieren die Italiener einen Elfmeter nach Foul von Luisinho an Rossi, und wiederum zwei Minuten später verfehlt Zico mit einem Freistoß um ein Nichts den Ausgleich. In der 56. Minute muss Zoff vor Cerezo retten, in der 58. wehrt er einen Schuss von Serginho ab. Auf der anderen Seite steht Rossi gleich anschließend allein vor dem Kasten, schießt aber vorbei.

Dann scheint Zeit zum Durchatmen gekommen zu sein, für zehn Minuten geschieht nichts, und die Italiener kontrollieren das Spiel einigermaßen. Doch aus diesem Nichts heraus wird alles wieder anders. In der 68. Minute legt Junior an der Strafraumgrenze für AS-Roma-Regisseur Falcao auf, der mit links Zoff überwindet. Das 2:2 bringt Brasilien in das Halbfinale, doch die Südamerikaner können ihrer Berufung, das Angriffsspiel zu zelebrieren, nicht widerstehen.

Aus einem italienischen Konter kommt es somit in der 74. Minuten zu einem Eckball, der von Giancarlo Antognoni getreten, von Luisinho abgewehrt, von Marco Tardelli Richtung Tor und doch eher Richtung Auslinie abgefeuert wird. Paolo Rossi streckt seinen Fuß in die Linie des Balles, und es steht 3:2.

Es ist noch lange nicht vorbei. In der 80. Minute wird Socrates aufgrund einer dubiosen Abseitsstellung zurückgepfiffen. In der 87. Minute passt Rossi auf Gabriele Oriali, dieser auf Antognoni, Ball im Netz, 4:2, alles entschieden? Aber nein: Schiedsrichter Klein annulliert den Treffer aufgrund eines nicht existenten Abseits.

Es ist immer noch lange nicht vorbei. In der 89. Minute tritt Eder einen Eckball, den Oscar mit dem Kopf Richtung Tor dreht. Die Kugel scheint sich an der linken Seite von Dino Zoff in das Netz zu senken, doch auf der Linie bringt „Dino Nazionale“ den Ball unter Kontrolle. Die Brasilianer jubeln dennoch ob des vermeintlichen Treffers. Zoff erhebt sich, das Gesicht zu einer Faust geballt, mit dem Finger in Richtung des Schiedsrichters gestikulierend: nein. Klein wird vielleicht gezögert haben, wird an die Szene auf der anderen Seite wenige Minuten zuvor gedacht haben, wird vielleicht auch vermutet, geglaubt, gesehen haben. Jedenfalls gibt er den Treffer, der keiner ist, nicht. Es endet 3:2. Paolo Rossi ist der beste Stürmer der Welt, denken und sagen die Tifosi. Italien ist Weltmeister.

Nun gut, nun gut, noch nicht ganz. Aber nach Siegen gegen Polen und gegen Deutschland im Endspiel ist Italien Fußball-Weltmeister 1982. Halbfinale und Finale waren normale Administration. Das Meisterstück war das Match gegen Brasilien, eine Sternstunde des italienischen Sports, die wohl auch außerirdische Zuschauer begeistert hätte. Im Jahr 1982 feiert nämlich nicht nur Isabel Allende mit „Das Geisterhaus“ ihren ersten Bestseller, sondern es läuft auch Steven Spielbergs „E.T.“ in den deutschen Kinos an. Außerirdisch ist in Spanien allerdings nur einer. Paolo Rossi.

Obiger Text wurde - gekürzt - dem Buch "Spiele, die Geschichte schrieben" (egoth, 2006, vergriffen) entnommen.

Rückflug nach Italien, mit dem Weltpokal (Foto: Presidenza della Repubblica)

 
Empfohlene Einträge
Aktuelle Einträge
Archiv
bottom of page